Zur Flüchtlingsfrage: Irrwege und Täuschungen der Politik
Zur Flüchtlingsfrage: Irrwege und Täuschungen der Politik

Zur Flüchtlingsfrage: Irrwege und Täuschungen der Politik

Samstag, 19.3.2016
Gestern haben die offiziellen Vertreter der Europäischen Union – Donald Tusk als Chef des EU-Rates und Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission – stolz den Pakt mit der Türkei bekanntgegeben und getrennt von ihnen Bundeskanzlerin Merkel, die ja die treibende Kraft war, mit den Worten:
„Die EU – geschlossen die 28 Staaten – ist in der Lage, das zu schaffen.“

Ich halte die Lage des heutigen Tages und den Inhalt des Paktes fest
und jeder kann beurteilen, ob ein Schritt vorwärts (Tusk: Durchbruch, aber keine Wunderlösung) auf eine wirkliche Lösung gemacht worden ist, geschweige denn damit eine Lösung des Problems „Flüchtlinge und Europa, Flüchtlinge und Deutschland“ erreicht werden kann:

1. In Syrien stehen Tausende vergebens vor der türkischen Grenze und in mindestens 2 Städten sind die Bewohner ohne Versorgung eingeschlossen und müssen total hungern oder Gras fressen. Wie es mit dem momentanen Waffenstillstand und mit Friedens- Verhandlungen weitergeht, weiss niemand.
2. In der Türkei befinden sich etwa 2 1/2 Millionen Flüchtlinge und die Kurden werden von Herrn Erdogan bombardiert bzw. mit Panzern angegriffen (auch jenseits der türkischen Grenze). Ganze Stadtviertel stehen unter einem totalen Ausgehverbot, Leichen können nicht geholt und bestattet werden.
3. In dem äusserst unstabilen, ja chaotischen Libyen sind 500.000 Menschen laut Aussage des UNO-Kommissariats für Flüchtlinge unmittelbar vor der Flucht (also nach Italien).
4. In Griechenland (Inseln und Festland) halten sich etwa 47.600 Flüchtlinge unter schlechten Bedingungen auf und wollen weg – etwa 10.000 harren in Indumani vor der mazedonischen Grenze im Schlamm aus und werden jetzt aufgefordert, in angeblich bessere Unterkünfte ins Innere Griechenlands zurückzukehren.
-Sie alle werden in den gestrigen Pakt nicht eingeschlossen. Auch UNHCR ist ratlos, kann nur zu besserer Versorgung auffordern.
-Die sogenannte West-Balkan-Route (Mazedonien, ehemalige jugoslawische Staaten, Ungarn, Österreich) bleibt versperrt.

Neu ist nun:
5. Ab 20.3. sollen mit dem Inkrafttreten des Paktes EU – Türkei alle Flüchtlinge, die aus der Türkei ohne offizielle Erlaubnis und ohne offiziellen Transport – also „illegal“ – ausreisen, in die Türkei zurückgebracht werden und sind dann von jeder späteren legalen Ausreise ausgeschlossen. Die Türkei muss sie vereinbarungsgemäß zurücknehmen (Wer registriert das?)-
dafür darf dann für jeden Syrer ein anderer Syrer legal – nur Syrer! – per Flug direkt in ein EU-Land ausreisen.
Damit werde „den Schleppern und Schleusern das Handwerk gelegt“.
6. Wohin in der EU diese „legalen“ Syrer reisen dürfen, wer sie aufnimmt – das ist der Freiwilligkeit eines jeden EU-Landes überlassen.
Es sind keine Kontingente festgelegt, Sanktionen waren überhaupt nicht im Blick (Merkel: Alle 28 haben zugestimmt ausser Ungarn, Slowakei (und wohl auch Tschechien). Der Pakt sei aber Grundlage dafür, dass mehr Staaten sich beteiligen. Das ist wohl eine Illusion – denn neueste Äusserungen von Polen, Großbritannien und anderen sind nicht bekannt. Frankreich will 30.000 in 2 Jahren aufnehmen.Österreich hat eine Obergrenze definiert.
Faktisch hat Deutschland eine Sonderrolle und soll alles fast alleine, sicher überwiegend stemmen (Da kann ja jedes Land zustimmen, wenn es selbst keine festgesetzten Aufgaben hat).
Die Obergrenze für die EU ist für diese „vorübergehende und aussergewöhnliche Maßnahme“ des 1:1-Tausches vorerst mit 72.000 definiert (18.000 anerkannte Flüchtlinge, sodann 54.000 weitere). Die Zahl kann erhöht werden, wenn keine unerlaubten Überfahrten mehr stattfinden und die Zahl der Flüchtlinge sinkt. Bei Nichterfüllung ist der Tauschhandel aussetzbar.
Anmerkung: Wie groß die Schande der Europäischen Gemeinschaft ist, belegt die Tatsache, dass 18.000 die Zahl ist, die bisher zur Kontingentverteilung festgelegt war, aber keine Aufnahmeländer gefunden hat; die 54.000 waren „zur Entlastung aller Aussengrenzen“ für die nächsten Monate bereits vorgesehen – nun wird beides auf das neue Kontingent der Direkt-aus-der-Türkei-Aufzunehmenden übertragen: Wieder ein blosses Versprechen!!

7. Was die Türkei bekommt, dazu später –
ich möchte zuerst Pkt. 5 kritisch hinterfragen und aufzeigen, wie sehr wir eingelullt werden sollen, wie sehr das eine Augen-Auswischerei ist, ja uns Sand in die Augen gestreut wird. Für mich ist dies die Vorspiegelung einer Lösung, ja eine Täuschung.

A. Es handelt sich um die EU-Aussengrenze zu Schwarzem Meer – Türkei – Nahost , ohne Afrika –
und die ist bei Griechenland wegen des offenen Meeres („internationale Gewässer“), der Vielzahl der Inseln und der Küstenlängen (Inseln wie Festland) nicht kontrollierbar, von den griechischen Behörden im jetzigen Zustand des Landes schon gar nicht.
Da es um die EU-Grenze geht (auch bei Italien, Spanien und Portugal) und der Zustrom zu Europa eine Angelegenheit der EU ist, kann das grundsätzlich nicht von einem zufälligen Grenzland verlangt, geleistet und bezahlt werden, sondern von der ganzen Gemeinschaft und zwar sofort bei Anfall der Kosten.
(Das einzelne Land muß aber auch die Ausübung der Hoheitsrechte einräumen und darf sich nicht in einem Eigenstolz einigeln, sich verweigern oder die Grenzsicherung unerledigt lassen.)
Das bisherige Weiterwinken und Loswerden der Menschen an das nächsten Land (v.a. Deutschland) soll damit gestoppt werden.

Auf See müssten Organisationen – wie gegenständlich Frontex und NATO – zur Ausübung von Rechten und Aktivitäten auch bevollmächtigt und beauftragt werden (inklusive Kostenerstattung), was nicht geschehen, ja sogar zum Teil direkt ausgeschlossen ist.
In diesem Rahmen kann und muss die Türkei als NATO-Mitglied bei den NATO-Aktivitäten in gleicher Weise tätig werden, bei den Frontex-Aktivitäten muss ihre Beteiligung geregelt werden, ebenso müssen die Tätigkeiten der einzelnen türkischen Behörden vertraglich festgelegt werden (ausser der selbstverständlichen Verhinderung krimineller Aktionen). Da das Land kein EU-Mitglied ist, ist eine EU-Registrierung schwer möglich, eine EU-Gerichtsbarkeit wohl gar nicht..

B. Es ist für den Nichtjuristen nicht sehr einfach – übrigens auch für die Politiker nicht (Beweis: die Abänderungen, Diskussionen um Abänderungen und Neufassungen), UNO-Menschenrechtskonvention, Genfer Flüchtlingskonvention, Asylgesetz (national, im Deutschen Grundgesetz – aber EU-Kompetenzen zur Harmonisierung seit 1999) zu verstehen – insbesondere ihre Wechselwirkungen. Wer ist „Flüchtling“, wer „Asylant“, wer „subsidiärer Schutzberechtigter“? Vollends lavieren befasste Stellen (und das Internet!!) bei „sicheres Herkunftsland – sicheres Transitland – sicherer Drittstaat“
(Der letztere Begriff scheint mir der einzig juristisch exakte zu sein, die anderen dürften für die Anwendung Bedeutung haben).

So hat das Flüchtlingskommissariat der UNO (UNHCR) schon im Vorfeld darauf hingewiesen, dass es um Schutz von Berechtigten geht und nicht um Zurückweisung, dass eine Abschiebung nicht von vornherein, nicht kollektiv und willkürlich erfolgen kann – sondern nur einzeln, in einer gerechten Behandlung in einer überschaubaren Frist (wobei meist Widerspruchsrechte eingeschlossen sind).
Bei Flüchtlingen aus Kriegsgebieten ist der vorrangige Blick aus möglichem Mißbrauch eher zielführend – die überwiegende Mehrheit wird in den Hoheitsbereich der EU eingelassen werden müssen.

Die Frage ist: Wie stellen sich die Unterzeichner des gestrigen Paktes „EU – Türkei“ die Einzelprüfung vor?
-beim Aussteigen aus dem Fluchtboot – aus der Luft – durch Eingreifen der türkischen Behörden vor Abfahrt (bis gestern haben sie zugesehen und haben nicht eingegriffen) und noch in ihren Hoheitsgewässern – an Bord von Frontex und NATO wer??
-Wenn die Menschen griechisches und damit EU-Hoheitsgebiet betreten haben: sind da die Hoheitsorgane (Juncker will zusätzlich 4.000 für Griechenland stellen, inkl. Richter) anwesend und welcher Flüchtling kann dann noch überhaupt an die türkischen Rücknahmebehörden übergeben werden? und wann? (Wer träumt da von 36 Stunden? Haben die Verfasser und Unterzeichner des Paktes den 4.4. als ersten Rückführungstag genannt – weil sie selbst schwimmen: daher 14 Spielraum?
Diese Konfusion der Pakt-Unterzeichner gestern hat das UNHCR in einer schriftlichen Stellungnahme bis heute abends klargestellt: Es muss auf griechischem Boden die Einzelfall-Prüfung durchgeführt werden, mit allen Berufungsfristen bei negativen Entscheiden! (Was das Fernsehen sagt und die Zeitungen schreiben, ist alles Gewäsch!)

Entscheidend wird sein, ob man es um des Vorteils willen wagen darf,
die Türkei als „sicheren Drittstaat“ zu definieren
(wenn Griechenland allein: welche Auswirkung juristisch auf die Gemeinschaft der EU? oder gleich die EU insgesamt?)
D a n n und nur dann hätte kein aus einem Kriegsgebiet Kommender eine Chance, als Asylant in der EU anerkannt zu werden, müsste tatsächlich nach der Verfahrenszeit in die Türkei zurückgeschickt werden – was ja bezweckt ist. Ist das rechtens möglich und politisch verantwortbar? (siehe dazu den nächten Artikel!)

Nach meiner jetzigen Einschätzung ändert sich also nichts: Jeder Flüchtling wird das Ziel haben,
s e l b s t auf e u r o p ä i s c h e m Hoheitsgebiet anzukommen – und weiterhin mittels Schleppern und/oder auf neuen Wegen.
Die Zahl der Ankömmlinge in Griechenland oder sonst in EU wird sich nicht verringern und die Notwendigkeit der Weiterleitung in die EU-Binnenländer mittels einer Kontingentregelung wird umso dringlicher werden.
Der 1:1-Austausch würde dann sehr selten zur Anwendung kommen.
Und da Herr Erdogan selbst Urheber von Not, Verfolgung, Tötung eigener – missliebiger – Staatsbürger ist, wird die EU bei einer Visa-Liberalisierung Scharen von Kurden… aufnehmen müssen.
Politik geht oft nicht durch Überredung, sondern durch Zwang – auch mittels Sanktionen.

MünchenBlick/ Walter Schober

Da der Artikel länger geworden ist, werde ich zum Thema Türkei einen eigenen Beitrag schreiben.

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